Das Leiden zwischen Schein und Sein

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von Dr. Anton Szanya

Über einige ideologische Ahnherren eines völkischen Anwalts und seiner Brüder im Geiste

Krisenjahre Österreichs im 19. Jahrhundert

In den vierzehn Jahren von 1859 bis 1873 wurde das Kaisertum Österreich mehrmals heftig erschüttert. In den Jahren 1859 und 1860 erlitt Österreich im Krieg gegen das mit Frankreich verbündete Königreich Sardinien-Piemont eine empfindliche Niederlage. Im Frieden von Zürich musste Österreich die Lombardei abtreten. Unter des Eindruck des Sieges Sardinien-Piemonts kam es zu tiefgreifenden politischen Umwälzungen als deren Ergebnis sich König VITTORIO EMANUELE II. im März 1861 zum König von Italien proklamieren lassen konnte. Damit war auf der Apenninenhalbinsel ein italienischer Nationalstaat entstanden.

In den folgenden Jahren spitzte sich innerhalb des Deutschen Bundes der Kampf um die Vorherrschaft zwischen Preußen und Österreich so weit zu, dass es im Jahr 1866 zum Krieg zwischen den beiden Staaten kam. Am 3. Juli 1866 erlitt die kaiserliche Armee in der Schlacht bei Königgrätz (Hradec Králové) eine schwere Niederlage. Der durch diese Niederlage herbeigeführte Ansehensverlust für die Dynastie und die Regierung wie auch der wegen der Belastungen durch die Kriegsverluste drohende Staatsbankrott ermutigte die separatistischen Kräfte in Ungarn, so dass die Wiener Regierung sich zum Friedensschluss um den Preis der Abtretung Venetiens an das mit Preußen verbündete Italien und des Ausschlusses Österreichs aus dem Deutschen Bund herbeilassen musste.

Die außenpolitischen wie auch die innenpolitischen Misserfolge brachten die konservativen politischen Kräfte um jedes Vertrauen. Unter der Führung liberaler Politiker wurde ein Umbau des Staates vorgenommen, der im Jahr 1867 zum sogenannten österreichisch-ungarischen Ausgleich und unter anderem auch zur Erlassung des »Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger«1 führte, das noch heute Teil des österreichischen Verfassungsrechtes ist. Dieses Gesetz gewährleistete allen Bürgern die Gleichheit vor dem Gesetz, den Zutritt zu allen öffentlichen Ämtern, die Freizügigkeit der Person, die Unverletzlichkeit des Eigentums, das Recht zur freien Meinungsäußerung, die freie Religionsausübung sowie auch die Versammlungs- und Vereinsfreiheit.

Wegen des Ausschlusses aus dem Deutschen Bund und der Umgestaltung des Kaisertums Österreichs zur Österreichisch-Ungarischen Monarchie, in der einem großen und geschlossenen Königreich Ungarn vierzehn, umgangssprachlich als Cisleithanien bezeichnete „im Reichsrate vertretene Königreiche und Länder“ gegenüberstanden, steigerte sich ein vom deutschen Mutterland abgetrenntes und in dem neuen Staat in eine Minderheitsposition geratenes Deutschtum in einen glühenden Hass gegen die ihres Glanzes weitgehend entkleidete Dynastie und einen hysterischen Abwehrkampftaumel gegen alles Slawische und Jüdische hinein. Die solcherart Befangenen vermochten in dem Staatsumbau des Jahres 1867 nicht die unausweichliche Folge des Versagens des neoabsolutistischen Regimes des Kaisers FRANZ JOSEPH zu erkennen, sondern nur die Ränke des jüdischen Liberalismus, der auf diese Weise „zwei Millionen Germanen in Ungarn verkauft und verraten“2 hätte, um die Stellung der Deutschen in Österreich zu schädigen, wie der einflussreiche Politiker und Prälat Joseph SCHEICHER meinte.

Der Sieg über Österreich bot der preußischen Regierung die Plattform, von der aus sie die nationale Einigung Deutschlands unter dem Hause Hohenzollern und die Beseitigung der europäischen Vormachtstellung Frankreichs in Angriff nehmen konnte. Dieses Ziel erreichte sie im preußisch-französischen Krieg der Jahre 1870/71, der mit der Vereinigung aller deutschen Staaten unter Preußen zum Deutschen Reich und der Proklamation des preußischen Königs WILHELM I. zum „Deutschen Kaiser“ sowie der Angliederung von Elsass-Lothringen als Reichsland an das neue Deutsche Reich endete. Durch diesen Erfolg zogen das Haus Hohenzollern wie auch der Reichskanzler Otto von BISMARCK die Bewunderung der Deutschnationalen in Österreich auf sich, wie diese andererseits in der Österreichisch-Ungarischen Monarchie nur mehr ein sich überlebt habendes Überbleibsel der Geschichte erkennen wollten, das der Vereinigung aller Deutschen in einem einzigen großen, mächtigen Deutschen Reich im Wege stand.

Kaum zwei Jahre nach dem Triumph Deutschlands sahen sich die Zweifler an der Lebensfähigkeit der Monarchie bestätigt, als am 3. Mai 1873 mit dem großen Börsenkrach eine Unzahl von Existenzen wirtschaftlich ruiniert wurde und viele Spekulanten Selbstmord begingen. Die Ursache für diesen Zusammenbruch wollten viele nicht in der überalterten, in Kleinbetriebe und handwerkliche Unternehmungen zersplitterten, in einer von altmodischen, zünftlerischen Auffassungen geprägten Wirtschaftsgesinnung erkennen, sie wollten vielmehr einen Schuldigen sehen, auf den man mit dem Finger zeigen konnte. Alle Schwierigkeiten und alles Elend der wachsenden Verstädterung, alle Missstände und alle Ausbeutung im aufsteigenden Kapitalismus wurden nicht als Auswirkungen der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umgestaltungsprozesse erkannt, sondern als die Folgen eines teuflischen Planes zur Eroberung der Weltherrschaft durch die Juden gedeutet. Darin waren sich die meisten politisch Denkenden des österreichischen Kleinbürgertums und der ländlichen Bevölkerung, aber auch Teile der sich bildenden Arbeiterbewegung einig. Die Unterschiede lagen in den Meinungen über die Zielgruppe, gegen die sich die angebliche jüdische Verschwörung richtet. Für die einen war es das deutsche Volk beziehungsweise die deutsche Kultur, für die anderen die katholische Kirche und das christliche Volk.

 


 

1 RGBl. Nr. 142/1867
2 Joseph Scheicher: Erlebnisse und Erinnerungen. Bd 2. Wien: Fromme 1907. S. 442.

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