Religionen und Ideologien – Zwei Erscheinungsformen falschen Bewusstseins

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von Dr. Anton Szanya

Tabelle 2:
Mythische Weltepochen und Persönlichkeitsentwicklung


Mythische Weltepoche

 

Menschliche Entwicklungsphase

Gestaltloses Chaos am Beginn der Welt.

 

Narzisstische Einheit des Selbst mit der Welt.

Trennung von Himmel und Erde, Land und Wasser.

 

Gewahrwerden der Verschiedenheit von Selbst beziehungsweise Ich und der Welt.

Titanenkämpfe, Engelsstürze mit Verbannungen in die Unterwelt; Paradiesesvertreibungen und Sündenfälle mit angedrohten, aber in ihrem Eintreten unbe­stimmten Strafen.

 

Gefühlsstürme des ödipalen Konflikts mit Verdrängungsvorgängen ins Unbewußte und Bestrafungsängsten.

Derzeit bestehende Welt, die jedoch von Katastrophen, Götterdämmerungen oder Jüngsten Gerichten bedroht ist, wenn die Mächte der Unterwelt wieder emporsteigen.

 

Abschluss der Persönlichkeitsentwicklung; das Ich ist in dauernder Abwehr der unbewussten Triebe begriffen und sieht sich von der Wiederkehr des Verdrängten bedroht.

 

Von dieser Warte aus besehen, sind Mythen nicht nur Versuche zur Erklärung der Welt, sondern auch – und hier zeigt MARX in seiner Charakterisierung der Religion eine erstaunliche Vorausahnung tiefenpsychologischer Erkenntnisse – „die phantastische Verwirklichung des menschlichen Wesens“. Hierin liegt auch ein Teil der angstmindernden Wirkung des Mythos begründet, weil er die Welt nach dem Ebenbild des Menschen darstellt, der sich zwar in vielerlei Hinsicht selbst nicht versteht, aber mit seinen unverstandenen Teilen zu leben gelernt hat.

Es wurde vorhin ausgeführt, dass die Wurzeln des Mythos in den narzisstischen Kränkungen und den Begleitumständen der Persönlichkeitsentwicklung zu finden sind. Je nachdem, wie diese erlebt worden sind, gestaltet sich die mythische Weltsicht. Im großen und ganzen lassen sich zwei solcher Sichtweisen29 unterscheiden: Da gibt es den Mythos, der aus dem Bewusstsein des Verschuldens erwächst, in dem die irdische Welt nur ein Ort der Verbannung und der Bewährung vor einer überweltlichen Macht ist. Diese Grundeinstellung entspricht einer vorwiegend masochistisch bestimmten Persönlichkeitsstruktur. Da gibt es aber auch den Mythos, der aus einem Bewusstsein des Gläubigers entspringt, der auf künftige Utopien gerichtet ist, die noch unerfüllte Forderungen zu befriedigen haben. Hierin findet die eher sadistisch gefärbte Persönlichkeit ihren Ausdruck. Beide Sichtweisen können bei ein und demselben Mythos auch ineinander übergehen, sodass beispielsweise ein Weltende als Strafgericht oder Anbruch eines Neuen Zeitalters gedeutet werden kann.

Die Anziehungskraft des Mythos

Aus den bisherigen Ausführungen lässt sich nun einigermaßen schlüssig ableiten, warum die aufklärerische Religionskritik erfolglos geblieben ist, ja hat bleiben müssen:

  • Seine Grundlegung erfährt der Mythos in einer Entwicklungsphase des Menschen, in der das bildhafte, anschauliche, eben primäre Denken noch gegenüber dem sprachlichen, logischen, analytischen, also sekundären Denken überwiegt. Daher entspricht das Weltbild des Mythos auch jenen Denkmustern und wirkt somit immer wieder einleuchtender als das aufgrund abstrakter Analysen gewonnene. Wie stark die Anziehungskraft des mythischen Denkens selbst in profanen Bereichen ist, zeigt sich am Erfolg von Massenmedien, die verwickelte und vielschichtige Abläufe in Politik und Wirtschaft auf die Gegnerschaften führender Persönlichkeiten im Kampf um Macht und Einfluss zurückführen und damit Erklärungsmuster anbieten, die zwar eingängig sind, aber mit der Wirklichkeit nur zum Teil zu tun haben.
  • Das frühkindliche Weltbild kennt nur eine klare Trennung von gut und böse, von weiß und schwarz. Die Auswirkungen dieser schlichten Weltsicht be¬stimmen auch noch die Werturteile der Erwachsenen. Vor allem kommt dies in der politischen Auseinandersetzung immer wieder zum Ausdruck, in der der politische Gegner rasch zum Feind gemacht wird, dem nur böse Absichten unterstellt werden.
  • Das mythische Weltbild kennt ebenso wie das der Kinder klare Verhaltensrichtlinien, nämlich das Wohlgefallen der höheren Mächte, mögen sie nun Gott, Vorsehung oder Eltern heißen, zu gewinnen und zu bewahren.
  • Daraus folgt als letztes eine unmittelbare Beziehung zwischen dem Menschen und diesen höheren Gewalten. Ob diese nun belohnen oder bestrafen, beides erfließt aus einen persönlichen Interesse dieser höheren Gewalt an jedem einzelnen Menschen, der sich dadurch in seinem Selbstwertgefühl gestärkt fühlen kann, weil ihm diese höheren Gewalten doch nicht gleichgültig gegenüber stehen.

 

„Angesichts eines Universums voller Ungewissheiten und Rätsel schaltet sich der Mythos ein, um die Dinge zu vermenschlichen“, schreibt hierzu der Altertumswissenschafter Pierre GRIMAL (1912-1996), „die Wolken des Himmels, das Licht der Sonne, die Stürme des Meeres, all dieses Außermenschliche büßt ein Gutteil seines Schreckens ein, wenn man darin eine Absicht, ein Empfindungsvermögen, eine Motivierung solcher Art zu erkennen glaubt, wie sie jedes Individuum tagtäglich erfährt. [...] Alles, was in uns nicht vom rationalen Wissen erleuchtet ist, gehört dem Mythos an, der nichts anderes ist als die spontane Abwehrreaktion des menschlichen Geistes gegenüber einer unverständlichen oder

 



29 „Die Funktion des mythischen Bewußtseins ist es vor allem, das Gefühl der Verbindlichkeit zu erwecken, das Bewußtsein der Verschuldung gegenüber dem Sein [...] Das Wort ‚Mythos’ wird üblicherweise auch zur Bezeichnung eines völlig entgegengesetzten Bewußtseins verwendet, des Bewußtseins des Gläubigers. Die Mythen, die sich vorwiegend auf eine künftige Utopie richten, die noch unerfüllte Forderungen befriedigen soll, Mythen, die vor allem Anrechte kodifizieren, nicht aber Verpflichtungen [...]“ [Leszek Kolakowski: Die Gegenwärtigkeit des Mythos (Obecność mitu, 1972). München, Zürich: Piper 1984. S. 121. Hervorhebungen im Original.]

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