Untersuchung über den Reichtum der Nationen

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von Endre Bárdossy

Lebtage, Wesen, Vermögen als griechisch gedachte ousia //ousía, lat. Essenz, Substanz. Unsere Geburt endet nicht nach den üblichen neun Monaten im Kreißsaal. Die wesensgerechte Natur, die empfangen wir wohl nach dem Innsbrucker Soziologen Julius MOREL während der «Zweiten Geburt»12 nach 18 x 12 = 216 Monaten in einem langwierigen Sozialisationsprozess von der Kinderstube bis zum Schulabschluss.

«Soziale Physik» (sprich Natur) umfasst also das so und so geartete Gewordensein des Einzelnen, der Gesellschaft und der Zivilisation überhaupt, in der wir auf die Welt gekommen sind und in der wir zum Leben Mut gefasst haben. Der global gewordene Zivilisationsanspruch umfasst heute nicht nur (wenn auch!) die geistige Kulturlandschaft eines einzelnen Landes. Gerade Österreich hat in dieser Hinsicht viel mehr als das Wörterbuch des Unterrichtsministeriums zu geben.

Mir scheint als einem Heimkehrer nach Österreich nach einer Odyssee von 24 Jahren, dass es hierzulande nicht nur an mutiger Erneuerung13 und Religionsunterricht mangelt, sogar der schlichte Deutschunterricht, auch für Erwachsene, nottut. Grundworte sind im Begriffe ihren Sinn völlig zu verlieren. Außerhalb des universalen Zivilisationsanspruches liegt die Barbarei und wer seine Zunge und Begierden nicht zügelt, der fällt bald in den Bereich dieses barbarischen Außerhalb, auch wenn er sich zeitlich und örtlich im scheinbaren Innerhalb aufhält, aber geistig im Abtrocknen begriffen ist. Die kulturelle Staatsangehörigkeit hängt nicht vom Reisepass ab, den mir einmal die österreichische Diplomatie in Buenos Aires abgenommen hat. Ein wenig schon, es hat mir wehgetan, aus Herzensgrund.

Der Ausdruck swfronew/sophronéo als Charakterzug des Griechentums heißt

  • mäßig, enthaltsam, maßvoll, bescheiden, gesunden Sinnes sein oder handeln,

  • besonnen, verständnisvoll, vernünftig sein oder handeln. Daher kommt angefangen von Mäßigung und Disziplin, über Sittsamkeit und Schamgefühl bis zum Zuchthaus und Zuchtmeister eine breite semantische Skala aus dieser Sprachfamilie, die uns nicht mehr ganz geheuer ist. Das griechische Denken meinte in erster Linie ein Zurückkehren zur Vernunft und Pflicht im Gegensatz zur ubri/hýbris: Freveltat, Misshandlung und Übermut.

Indes Besonnenheit ist Herrschaft, Herrschaft unserer besseren Hälfte über die ganze Seele. Sie bedeutet allem voran Gesundheit und Harmonie, was der Natur entspricht, d. h. unserem Gewordensein in genauer Entsprechung zur temperantia der Römer. Die lateinische Wortgruppe ist ein für alle Mal sehr aufschlussreich und ein sprechendes Zeugnis dafür, warum die führenden Köpfe des öffentlichen Lebens, des fairen Handelns und der Erziehung der Gesellschaft zur Freiheit, auch im modernen Zeitalter, durch die humanistische Bildung gehen müssten:

  • Temperantia: Maßhalten, Selbstbeherrschung,

  • Temperare: richtig wärmen oder kühlen (temperieren), Wein oder Gift mischen, regieren, zügeln, ordnen, regeln, Maß halten, mäßigen. Im Spanischen bedeuten die Verben templar, criar, moderar analogerweise die Beruhigung eines Sturmes und der Gemüter, im besonderen die Mäßigung des stürmischen Mostes zum edlen Wein, unter anderem auch die Anpassung der Segel an die Windstärke, oder das Tempern (Härten) des heißen Eisens im kalten Wasser, um es schmiedbar und gediegen zu machen; ähnlich heißt es im Englischen to temper.

  • Temperatus: Das Partizip von temperare besagt folglich «gut temperiert», nicht zu warm, nicht zu kalt, mäßig, ruhig, besonnen, im Spanischen un clima templado bezieht sich auf die milde Witterung ohne Dürre und ohne Frostgefahr, günstig für jede Kultur des Bodens und des Geistes zugleich.

  • Temperamentum: rechtes Maß, Mäßigung, rechte Beschaffenheit, richtige Mischung,

  • Tempera: Besonders leuchtende Farben, die aus verdünntem Eigelb, Feigenmilch, Honig, Leim oder ähnlichen Bindemitteln richtig gemischt worden sind. Max Weiler hat damit seine Himmelslandschaften gemalt, um ein heutiges Beispiel zu nehmen.

  • Temperatura: richtige Mischung, Wärmezustand der Luft / eines Körpers

  • Temperator: Ordner, Gestalter

  • Temperatio: Ordnendes Prinzip einer zweckmäßigen Einrichtung im Allgemeinen. Wie wir noch sehen werden, wiederholt sich bei HAYEK dieser Ordo-Begriff im Ordo-Liberalismus.

Wie man sieht, der Zivilisationsanspruch der humanistischen Tradition umfasst eine breite Palette für den Gabelstapler der alten Tugenden. Von der kosmischen Ordnung der «physikalischen Natur» bis zum so und so Gewordensein der «sozialen Ordnung» kommt es auf die richtige Mischung an.

SOLON, Staatsmann und einer der Sieben Weisen Griechenlands, schuf die erste politische Ausformung des Maßvollen, dessen Wahlspruch das «Nichts allzu sehr Wollen» (mhte lian /méte lían) war. Die Gesetzgebung sollte zwischen den Ansprüchen der Armen und Reichen durch eunomia /eunomía: Gute Verfassung, Beobachtung der Gesetze, ohne Ansehen der Person, auf Grundlage der Rechtlichkeit und Ordnung (kosmoV /kósmos) einen angemessenen Ausgleich schaffen. Unter den Sophisten verfiel dieses Ethos des Maßes bald zur leeren Formel des Relativismus bis es schließlich nur noch ein Synonym für Dummheit und Schwäche war. Wie das Gesetz so ist auch das Maß zu einer Erfindung der Schwachen gestempelt worden, die die Stärkeren am Ausleben der Begierden zu hindern suchen. Alles ist schon dagewesen. NIETZSCHES Fluchen und Schimpfen waren auch in dieser Hinsicht wenig original.

Bei PLATON wurde diese Wohltemperiertheit wieder zur Vorbedingung der Gerechtigkeit auserkoren und in abgewogener Mischung zusammen mit der Tapferkeit als politische Tugend der umfassenden Staatskunst dargestellt.

ARISTOTELES übersetzte die kosmische Temperiertheit in die universelle Mesoteslehre. In seiner Ethik für Nikomachos wird die gehörige Mitte jeweils zwischen zügellosen Extremen, in Einklang mit dem natürlichen Begehren und dem richtigen Logos als Kardinaltugend beschrieben:

  • meso/mésos: Mitte, Zentrum, Zwischenraum, Vermittlung, Aussöhnung,
  • das Unparteiische schlechthin,
  • mesoth/mesótes: Mitte, Mittelmaß,
  • metrew/metréo: messen, ausmessen,
  • metrio/métrios: angemessen,
  • metron/métron: das Meter, Maß, Maßstab, Ausdehnung, Ziel, Blüte, Reife.

Daher gesellten sich zur römischen temperantia auch mensura, moderatio. Im Italienischen, Spanischen, Französischen, Englischen wurden sie wörtlich übernommen:

  • misura, medida, mesure, measure (size),
  • moderazione, moderación (justo medio), modération, moderation.

Bei NIETZSCHE kam es zu einem geistig-seelischen Bruch. In der Zuordnung des Maßes zum Apollinischen und des Übermaßes zum Dionysischen vollzieht sich eine schizophrene Tendenz, sowohl in der Kunst wie auch in der Folge über das Ideologische in sozialistischen Staats- und Wahnvorstellungen, sowohl in der romantischen Nazi-Ausgabe wie in der platonischen Überschwänglichkeit des Marxismus, bis zu allen Fasern der so genannten «exzentrischen Entwurzelung» des modernen Menschen.

Wo man die Schattenseiten des griechisch-römisch orientierten Christentums entdeckte, dort sind Pleonexie14 und die Unfähigkeit der Massengesellschaft Leid zu ertragen und zu


12 Morel, Julius. 1977. Enthüllung der Ordnung. Grundbegriffe und Funktionen der Soziologie. Tyrolia, Innsbruck. 69 ff.
13 Morel, Julius. 2003. Radikale Kirchenreform. Für eine mutige Erneuerung. Tyrolia, Innsbruck
14 Pleonexia/ pleonexía: das Mehrhabenwollen, Habsucht, Vergrößerungssucht

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