Buchbesprechungen III

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von Rainer Ernst Schütz

Meinhard Miegel, Die deformierte Gesellschaft. Propyläen Verlag, Berlin 2002

Der gebürtige Wiener Dr. Meinhard Miegel war unter Kurt Biedenkopf Leiter der Hauptabteilung Politik, Information und Dokumentation der Bundesgeschäftsstelle der CDU und seit 1977 Leiter des Instituts für Wirtschaft und Gesellschaft Bonn. Er hat sich einen Namen gemacht als profunder Analytiker politischer und gesellschaftlicher Gegebenheiten, und seine oft im Gegensatz zur gängigen Meinung formulierten Thesen haben sich in erstaunlichem Maße bewahrheitet. Er prophezeite die baldige Wiedervereinigung Deutschlands, als kaum jemand daran glauben wollte, und er prophezeite jahrzehntelange wirtschaftliche Schwierigkeiten im wiederver-einigten Deutschland, als viele noch an blühende Landschaften binnen eines Jahrzehnts glaubten. Jetzt warnt er von noch immer zu optimistischen Vorstellungen über die Fortschreibbarkeit unserer sozialen Netze.

Er analysiert: Die außergewöhnliche Wohlstandsepoche, die die Bundesrepublik seit den 50er Jahren erlebt hat, basierte auf einer einzigartigen Kombination von Bevölkerungsstruktur, Wirtschaftswachstum, Vollbeschäf-tigung und sozialer Absicherung. Diese Jahre des Überflusses sind endgültig vorbei. Der Rückgang der Geburtenraten und die rapide Alterung der Bevölkerung stellen den Generationenvertrag auf den Kopf. Die Wachstumsraten der Zukunft werden ein Bruchteil des Gewohnten betragen, Arbeitslosigkeit wird zum Normalfall, das soziale Netz wird grobmaschiger.

Dieser dramatische Wandel der Grundlagen unserer Gesellschaft ist seit langem erkennbar und von Experten prognostiziert. Doch die Deutschen, allen voran ihre Politiker, verdrängen die neuen Realitäten. Unbeirrt gelten den Westdeutschen die Erfahrungen der Aufbaujahre, den Ostdeutschen diejenigen der Planwirtschaft als Maßstab. Diese rückwärtsgewandte Fixierung behindert die überfälligen Anpassungsprozesse in Wirtschaft und Gesellschaft. Miegel fordert ein rasches Umsteuern auf allen Ebenen, um auf verändertem Niveau ein neues gesellschaftliches Gleichgewicht zu schaffen. Je länger dieses verzögert werde, desto größer die Gefahr dramatischer Folgen.

Rainer Ernst Schütz

Rotraud A. Perner, Schaff’ Dir einen Friedensgeist. Aaptos Verlag, Wien 2001

Rotraud A. Perner, Die Kultur des Teilens. Ueberreuter Verlag, Wien 2002

Die lizenzierte Psychoanalytikerin und Psychotherapeutin Prof.Mag.Dr.Rotraud A. Perner, Jahrgang 1944, promovierte in Rechtswissenschaft und wandte sich der Soziologie, Sexualpädagogik und Tiefenpsychologie zu. In den hier vorgestellten beiden Büchern reißt sie ein Weltbild friedfertigen Miteinanders auf, das auf einer Kombination von selbstbewußtem Bekenntnis zum eigenen Ich und klarer Definition eigenen Wollens einerseits und positivem Zugehen auf den Anderen, mit den Mitteln des Verstandes, des Mitfühlens und der Zuwendung andererseits ist.

In „Schaff’ Dir einen Friedensgeist“ steht die Gewaltanalyse und Strategien zur Gewaltvermeidung im Mittelpunkt, in „Die Kultur des Teilens“, ein in ungewöhnlicher Briefform geschriebenes Buch, wird über alle Formen des Teilens und Teilhabens reflektiert.

Wer Rotraud Perner auf billige Weise mißverstehen will, wird möglicherweise aus ihren werken nichts als Gesellschaftskritik jener Art herauslesen, wie sie vom rechten politischen Spektrum gerne als typisch linke Gesellschaftskritik bezeichnet wird. Wer sich ernsthaft mit dem Werk Perners beschäftigt, wird erkennen können, daß ihm Klischees keineswegs gerecht werden. Es handelt sich vielmehr um ein in sich schlüssiges Konzept für individuelles Verhalten, das von Rationalität und Realismus eher weniger weit entfernt ist als die üblichen Moralquellen aus Kirchenlehre oder kategorischem Imperativ. Für Menschen, die ein Nachdenken darüber, was richtiges, „gutes“ Handeln sein könnte, nicht a priori für obsolet halten, wichtige und empfehlenswerte Bücher. Politisch streiten kann man natürlich immer darüber, ob es rational ist, in naher Zukunft eine breite Verwirklichung der hier vorgetragenen Ziele zu erwarten. Das gilt aber für alle Ethik.

Rainer Ernst Schütz

Herbert Zeman, Johann Nepomuk Nestroy, Holzhausen Verlag, Wien 2001. 354 S., geb., Abb., öS 399.-, € 29.-, ISBN 3-854-93035-6.

Zum 200. Geburtstag von Johann Nepomuk Nestroy hat sich die deutschsprachige, allen voran die austriakalische Germanisten- und Theaterwissenschaftlerzunft mächtig ins Zeug gelegt. Zu recht, denn im Umfeld der Nestroy-Forschung gab es zahlreiche weiße Flecken. Nun hat, neben Wendelin Schmidt-Denglers Nestroy. Die Launen des Glücks (Verlag Zsolnay, Wien 2001) und Renate Wagners Nestroy zum Nachschlagen. Sein Leben - Sein Werk - Seine Zeit (Styria Verlag, Graz 2001), auch der Ordinarius für neuere deutsche Literatur mit besonderer Berücksichtigung der österreichischen Literatur an der Universität Wien, Herbert Zeman, vor allem das künstlerische Werden und Wirken Nestroys unter die Lupe genommen.

Dabei hat er nicht nur jedes einzelne der über 80 Bühnenstücke - die teils das Potential haben, noch unter heutigen Bedingungen zu bestehen – besprochen und dabei ihrer Satire und Komik sowie ihrem Witz gewürdigt. Neben der Inhaltsangabe der Nestroyschen Theaterstücke hat Zeman eine fundiert recherchierte Biografie vorgelegt, wobei vor allem die Nachzeichnung der Nestroyschen Jugendjahre – angereichert durch unveröffentlichte Dokumente - für Interesse sorgen dürften. Völlig neu das Hervorstreichen Nestroys als Konzert- und Opernsänger.

Endlich steht es schwarz auf weiß: Dass Nestroy bereits mit siebzehn Jahren und danach in den Jahren 1819 bis 1822 regelmäßig in Konzerten als Chorist und Solist auf der Bühne stand. Am 17. Februar 1819 etwa entschuldigt er sich in einem Brief beim Comittée des großen Musickvereins: Er müsse den "Singpart" zurückschicken, da er gerade von einer Krankheit genesen sei, aber das Haus noch nicht verlassen dürfe. Er werde aber fürs nächste "Gesellschafts=Concerte" wieder zur Verfügung stehen und in "drey oder vier Wochen" bei den "Musicken im rothen Apfel wieder zu Diensten" sein. der rote Apfel war das Quartier des leitenden Ausschusses der Musikfreunde und der Singschule.

Kenntnisreich weist Zeman auf den Stellenwert der Musikeinlagen und Couplets in Nestroys Stücken hin, deren Koloraturen und Tonumfang von den Darstellern der Zentralfiguren nicht lediglich geschulte, sondern voll ausgebildeten Stimme forderten. Er verweist auch auf Analogien und Verwandtschaften in Figurenkonstellationen im zeitgenössischen Musiktheaterrepertoire, das Nestroy als längjähriger Opernsänger im Blut haben musste. Minutiös wurden dafür Aufführungsberichte studiert, Briefe und andere einschlägige Quellen ans Licht der Öffentlichkeit gehoben, etwa aus dem Archiv des Musikvereines, die beweisen, in welchem Rahmen der Autor von Volksstücken, Possen, Travestien und Parodien sowie deren Gesangseinlagen auf Erfahrungen als Bassbariton-Solist der Wiener Hofoper zurückgreifen konnte.

Dialektischer Witz, scharfe Ironie, abgründige, subtile Satire standen bei Nestroy neben absurder, urwüchsiger Komik. Alle seine Werke sind geprägt von desillusionierender, absoluter Skepsis gegenüber menschlichem Verhalten und gesellschaftlichen Entwicklungen jeglicher Art. Unerbittlich zeigt er in seinen Werken menschliche Abgründe und Schwächen, prangert sie an, doch ist stets Sympathie für die kleinen Leute spürbar, letztlich auch eine tiefversteckte moralische Utopie. So, wie er sie selbst gerne erlebt hätte?

Beate Hennenberg

Stephan Stompor, Jüdisches Musik- und Theaterleben unter dem NS-Staat. Schriftenreihe des Europäi¬schen Zentrums für Jüdische Musik Bd. 4, herausgegeben von Andor Izsák unter Mitwirkung von Susanne Borchers (=Europäisches Zentrum für Jüdische Musik 2001), Hannover 2001.

Studie über den Jüdischen Kulturbund

Von einem neuen wichtigen Buch, das sich mit dem Musik- und Theaterleben während der nationalsozialistischen Epoche beschäftigt, ist zu berichten. Vorweg: Es ist als gutes Zeichen zu sehen, dass sich in jüngster Zeit zahlreiche Publikationen unter so verschiedenen Blickwinkeln mit dieser Materie, die wohl auch in mehreren Jahren noch nicht end- und restgültig erforscht sein wird, beschäftigen.

Es gab jüngst die faktenreichen Darstellungen über exilierte Künstler und Musiker der Autorin Barbara von der Lühe (Die Emigration deutschsprachiger Musikschaffender in das britische Mandatsgebiet Palästina, Verlag Peter Lang, Frankfurt am Main1999 und Die Musik war unsere Rettung! Die deutschsprachigen Gründungsmitglieder des Palestine Orchestra, Verlag Mohr Siebeck, 1999) wie auch das Werk von Peter Peterson und Hanns-Werner Heister, Exil ist eine Krankheit (Arbeitsgruppe Exilmusik Hamburg, Lebenswege von Musikerinnen im Dritten Reich und im Exil, Verlag von Bockel, Hamburg 2000. Andreas Nachama beschäftigte sich mit Juden in Berlin (Verlag Henschel, Berlin 2001). Peter Schneider behandelte das Thema eines jüdischen Musikers (Und wenn wir nur eine Stunde gewinnen. Wie ein jüdischer Musiker die Nazi-Jahre überlebte, Verlag Rowohlt, Berlin 2001) eher belletristisch-biografisch. Allen Autoren ist eigen, dass sie dem Schlaf des Vergessens trotzen, dass sie die Menschen von heute aufzurütteln, sensibel zu machen versuchen.

Der Autor

Das Aufrütteln wie auch das Dokumentieren der damaligen Zustände unter den Kulturschaffenden der NS-Zeit anhand von Fakten ist auch das Hauptanliegen von Stephan Stompor (1931-1995). Der ehemalige Dramaturg an den Opernhäusern Leipzig und Berlin, der sich Zeit seines Lebens mit dem Bewahren von zu Unrecht vergessener Dokumente beschäftigte (er gab u.a. die Briefe Otto Klemperers heraus, weiterhin ein Autorenhandbuch und eine Schriftensammlung über das Musiktheater von Walter Felsenstein, Joachim Herz und Götz Friedrich), widmete einen bedeutenden Teil seiner Forschungstätigkeit der Verflechtung von Musiktheater

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