Religiosität und Politischer Extremismus

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von Dr. Anton Szanya

Formen des Mythos

Die verdrängten Inhalte und Triebwünsche der narzisstischen Kränkung und des ödipalen Konflikts sind der Stoff aus dem die Mythen sind. Da dieser Stoff aber schon auf einer Entwicklungsstufe des Kindes geformt wird, auf der sein Ich oder Selbst noch nicht voll ausgereift ist, bildet er die Hauptinhalte des sogenannten primärprozesshaften Denkens, das sich mit den Eigenschaften

  • des bildhaften und nichtsprachlichen Denkens,
  • des zeitlich ungegliederten Denkens, dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sowohl als Erfahrung als auch als Kategorien fremd sind,
  • des Denkens in Anspielungen, Analogien und Symbolen charakterisieren lässt.15

Geformt durch dieses primärprozesshafte Denken werden aus den verdrängten frühkindlichen Erlebnissen die phantastischen und symbolträchtigen Mythen der Weltentstehung und des Weltunterganges. In vielen Mythenkreisen lassen sich Entsprechungen zwischen ihren Weltepochen und den Entwicklungsphasen vom Kind zum Erwachsenen ausnehmen:

  • So beginnt die Welt mit einem gestaltlosen Chaos, entsprechend dem ursprünglichen Einssein des Selbst mit der Welt.
  • Die Trennung von Himmel und Erde versinnbildlicht das Gewahrwerden der Verschiedenheit des Selbst von der Welt.
  • Es folgen sodann gewaltige, grausame Titanenkämpfe oder Engelsstürze mit Verdammungen in die Unterwelt, Paradiesesvertreibungen und Sündenfälle mit zwar angedrohten aber in ihren Eintreten unbestimmten Strafen, wie auch die emotionalen Stürme des ödipalen Konflikts mit Verdrängungsvorgängen ins Unbewusste und Bestrafungsängsten einhergehen.
  • Zuletzt erscheint die Welt geordnet, wie sie sich auch dem Menschen nach Abschluss seiner Persönlichkeitsentwicklung darstellt, aber immer bedroht von Katastrophen, Götterdämmerungen und Weltuntergängen, wenn die Kräfte der Unterwelt - oder des Unbewussten - wieder an die Oberfläche steigen.

Diese mythischen Stereotype können in zweierlei Sichtweisen auftreten.

    • Da gibt es den Mythos, der aus dem Bewusstsein des Verschuldens erwächst, in dem die irdische Welt nur ein Ort der Verbannung und der Bewährung vor einer außerweltlichen Macht ist.
    • Da gibt es aber auch den Mythos, der aus einem Bewusstsein des Gläubigers entspringt, der auf künftige Utopien gerichtet ist, die noch unerfüllte Forderungen befriedigen soll.16

Beide Sichtweisen können bei ein und demselben Mythos ineinander übergehen, sodass beispielsweise ein Weltende entweder als Strafgericht als auch als Anbruch eines Neuen Zeitalters gedeutet werden kann.

Die Anziehungskraft des Mythos

Aus den bisherigen Ausführungen lässt sich bereits ableiten, worin die immer wieder wirksam werdende Anziehungskraft des Mythos auf die Menschen liegt:

  • Seine Grundlegung erfährt der Mythos in einer Entwicklungsphase des Menschen, in der das bildhafte, anschauliche Denken noch gegenüber dem sprachlichen, logischen und analytischen überwiegt. Daher entspricht das Weltbild des Mythos auch diesen Denkmustern und wirkt deshalb immer wieder einleuchtender als das aufgrund abstrakter Analysen gewonnene. Zahllose Beispiele für die Anziehungskraft des mythischen Denkens bietet die Berichterstattung der Massenmedien, die vielschichtige und verwickelte Vorgänge gerne als Ausfluss von Feind- und Gegenerschaften führender Personen untereinander darstellen. Hier sind es noch immer die Männer, die Geschichte machen.
  • Das frühkindliche Weltbild kennt auch nur die klare Trennung von gut und böse, von weiß und schwarz. Die Nachwirkungen dieser schlichten Weltsicht bestimmen auch noch die Werturteile der Erwachsenen. So ist es beispielsweise noch immer leichter, eine Mehrheit für die Wiedereinführung der Todesstrafe zu gewinnen als für erhöhte Ausgaben zum Ausbau von Wiedereingliederungseinrichtungen für soziale Randgruppen.
  • Das mythische Weltbild kennt ebenso wie das der Kinder klare Verhaltensrichtlinien, nämlich das Wohlgefallen der höheren Mächte, mögen sie nun Gott, Vorsehung oder Eltern heißen, zu gewinnen und zu bewahren.
  • Daraus folgt als letztes eine unmittelbare Beziehung zwischen den Menschen und diesen höheren Gewalten. Ob diese nun belohnen oder bestrafen, beides erfließt aus einem persönlichen Interesse dieser höheren Gewalt an jedem einzelnen Menschen. Es ist wohl noch kaum einem der vielen Betenden in den Sinn gekommen, dass sie ihren so großartig, allmächtig und allwissend vorgestellten Gottheiten mit ihren kleinen menschlichen, allzumenschlichen Anliegen einmal lästig werden könnten.

Die nach mythischen Vorstellungen aufgebaute Welt bietet demnach trotz aller nicht abzuleugnender Unsicherheiten – denn die Ratschlüsse der Götter bleiben letztlich doch unerforschlich – die Sicherheit und Geborgenheit bei einem allezeit

 


 

15 Charles Brenner: Grundzüge der Psychoanalyse (An Elementary Textbook of Psychoanalysis, 1972). Frankfurt am Main: Fischer 201999. S. 55.
16 „Die Funktion des mythischen Bewußtseins ist es vor allem, das Gefühl der Verbindlichkeit zu erwecken, das Bewußtsein der Verschuldung gegenüber dem Sein [..]. Das Wort ‚Mythos’ wird üblicherweise auch zur Bezeichnung eines völlig entgegengesetzten Bewußtseins verwendet: des Bewußtseins des Gläubigers. Die Mythen, die sich vorwiegend auf eine künftige Utopie richten, die noch unerfüllte Forderungen befriedigen soll, Mythen, die vor allem Ansprüche kodifizieren, nicht aber Verpflichtungen [...]“ [Leszek Kolakowski: Die Gegenwärtigkeit des Mythos (Obecność mitu, 1972). München, Zürich: Piper 1984. S. 121.]

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