Anfänge bürgerlicher Ideologie

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von Dr. Anton Szanya

 

Der Sturz des Weltenherrn

Im Morgengrauen des 7.9.1303 drangen einige Gruppen Bewaffneter in die mittelitalienische Stadt Anagni ein, deren Stadttore durch Verrat geöffnet worden waren. In wildem Häuserkampf eroberten sie nach und nach die Paläste einiger Kardinäle, denen in einigen Fällen nur die Flucht durch die Latrinen das Leben rettete. Am Abend fiel schließlich auch der hartnäckig verteidigte Palast des Papstes in die Hände der Angreifer. Einer ihrer Anführer, Giacomo „Sciarra“ COLONNA, nahm den ihm in vollem Ornat entgegentretenden Papst BONIFATIUS VIII.1 gefangen, wobei er ihn hart zu Boden schlug und nur das Dazwischentreten des französischen Kanzlers Guilleaume de NOGARET, der den Papst seinem König lebend vorführen wollte, jenem das Leben rettete.2

Mit der Gefangennahme des Papstes brach der von ihm noch im Jahr zuvor in der Bulle „Unam sanctam“ erhobene Anspruch, nicht nur geistlicher, sondern auch weltlicher Oberherr der Christenheit zu sein, über Nacht zusammen. Der zweite Nachfolger BONIFATIUS’ VIII., CLEMENS V.3 verlegte seinen Sitz nach Avignon in der Provence, damit aller Welt anzeigend, daß das Papsttum zum Vasallen des französischen Königs geworden war. Bis zum Jahr 1377 residierten die Päpste in Avignon. Die Rückkehr des Papstes GREGORIUS XI.4 nach Rom führte nach seinem kurz danach eingetretenen Tod zu einer Spaltung der Kirche, da die französischen Kardinäle die Wahl von URBANUS VI.5 nach einigem Zögern nicht anerkannten, sondern den Kardinal ROBERT von Genf zum Papst wählten, der den Namen CLEMENS VII.6 annahm und seinen Sitz wieder in Avignon nahm. Bis zum Jahre 1417 regierten zwei Päpste, jeweils einer in Rom und einer in Avignon, von denen jeder von sich behauptete, der rechtmäßige Papst zu sein und den jeweils anderen mit dem Bannfluch belegte. Um dieser Doppelherrschaft ein Ende zu machen, beriefen schließlich die Kardinäle beider Päpste im Jahre 1409 ein Konzil nach Pisa ein, das beide Päpste für abgesetzt erklärte. Jedoch weigerten sich beide abzudanken. Mit der Wahl von ALEXANDER V.7 und von JOHANNES XXIII.8 durch das Konzil von Pisa wurde die Situation noch verschlimmert, denn nun gab es drei Päpste.

Als es auf dem Konzil von Konstanz gelang, mit MARTINUS V.9 einen allgemein anerkannten Papst zu wählen und damit die Spaltung der römischen Kirche zu beenden, waren die Risse in der westlichen Christenheit allerdings nicht mehr zu kitten.

Die Krise der Kirche zog auch die allgemeine Gültigkeit und Verbindlichkeit der kirchlichen Interpretation der christlichen Lehren in Mitleidenschaft. Die intellektuell führenden Köpfe Europas suchten nach anderen Wertesystemen, die in diesen wirren Zeiten Halt und Orientierung geben könnten. Wie häufig in derartigen historischen Situationen wurde der Blick bei dieser Suche auch damals zuerst in die Vergangenheit gerichtet.

Die eine Möglichkeit einer Rückschau war die auf die Fundamente der christlichen Religion, beziehungsweise auf das, was man damals allgemein dafür hielt. Viele Gelehrte wandten ihre Aufmerksamkeit verstärkt der Bibel zu und zogen im Lichte der politischen Situation neuartige Schlußfolgerungen. So kam etwa der englische Geistliche John WICLIF (1328 - 1384) unter der Annahme, mit der Bibel Gottes Wort vor sich zu haben, zu der Erkenntnis, daß die wahre Kirche allein die spirituelle Gemeinschaft der Gläubigen in Christo sei, während Papsttum, Hierarchie und Dogma Werke des Antichrist sein müßten. Um seinen Ansichten eine allgemeine Verbreitung zu ermöglichen, übersetzte er die Bibel ins Englische und er fand auch in den „Lollharden“ eine breite Anhängerschaft, deren Unruhen und Aufstände die römische Kirche in England nachhaltig erschütterten.

Die Theorien WICLIFS wurden vor allem durch den tschechischen Priester Ján HUS (1369 - 1415) in Mitteleuropa und hier vor allem in Böhmen verbreitet. Auch dort führten die Predigten von HUS und seinen Anhängern zu Tumulten und Unruhen. In Verkennung der gesellschaftlichen Sprengkraft der HUSschen Lehren glaubte die Kirchenführung auf dem Konzil von Konstanz, wohin HUS unter Zusicherung freien Geleits vorgeladen worden war, die Bewegung mit der Tötung ihres führenden Mannes unterdrücken zu können. Das Gegenteil war der Fall. Mit seiner Verbrennung als Ketzer wurde HUS zum Märtyrer des tschechischen Volkes, das sich ab dem Jahr 1419 in den fast zwanzig Jahre dauernden Hussitenkriegen gegen das römische Papsttum und seinen weltlichen Arm, das römische Kaisertum, zur Wehr setzte.

Das „Rinascimento“

Im Falle Italiens - wobei in jener Zeit unter Italien eine geographische Einheit, aber kein einheitlicher Staat zu verstehen war -, das als Hauptland des Papsttums besonders stark von dessen Zerrüttung betroffen war, fiel der suchende Blick in die Vergangenheit gewissermaßen selbstverständlich auf die Epoche der Antike, die als Bestandteil der eigenen Geschichte aufgefaßt wurde. Mit verstärktem Interesse wandten sich die Gelehrten der antiken Philosophie und Geschichte zu. Diese Beschäftigung mit der Antike brachte vor allem zwei Wertvorstellungen jener Zeit wieder in das allgemeine Bewußtsein zurück: den Ruhm und die Gemeinschaft der Bürger, die civitas.

DER „MYTHOS VOM RUHM“

Der Verfall der kirchlichen Lehre und die daraus sich ergebenden Zweifel an ihrer Wahrheit blieb nicht ohne Auswirkungen auf die Lebenseinstellungen breiterer Kreise. Die Unsicherheit über ein allfälliges Weiterleben nach dem Tode im Sinne der christlichen Lehren, wonach ein gemäß den moralischen Regeln geführtes Leben auf Erden der Seele den Einzug in das himmlische Paradies und ein ewiges Leben in seliger Anschauung Gottes erwirken würde, ließ das narzißtische Streben in den Menschen nach Unsterblichkeit10 nach

 


 

1 Benedetto CAETANO, 1235 - 1303; Papst seit 1294.
2 Johannes Haller: Das Papsttum; Idee und Wirklichkeit. Bd V: Der Einsturz (1943). Reinbek: Rowohlt 1965. S. 156 f.
3 Raymond Bertrand de GOT, ? - 1314; Papst seit 1305.
4 Pierre Roger de BEAUFORT, 1329 - 1378; Papst seit 1370.
5 Bartolomeo PRIGNANO, 1318 - 1389; Papst seit 1378.
6 1342 - 1394; Papst seit 1378.
7 Petros PHILARGIS, 1340 - 1410; Papst seit 1409.
8 Baldassarre COSSA, 1370 - 1419; Papst 1410 - 1415.
9 Oddone COLONNA, 1368 - 1431; Papst seit 1417.
10 Vergleiche dazu Anton Szanya: Magische Helfer, strahlende Helden, finstere Gesellen; Betrachtungen zur politischen Bildersprache, in: der freidenker 1(1997. S. 32 ff.

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