Ein zu großer Bissen?

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von Rainer Ernst Schütz

Wolfgang Schüssels geniale Strategie, Jörg Haider mit seinen eigenen Waffen zu schlagen, findet mittlerweile allgemein respektvolle Anerkennung. Sympathie findet sie freilich nur dort, wo das Ergebnis dieser Politik, nämlich eine stabile bürgerliche Mehrheit, auch geschätzt wird. Und das ist nicht nur bei einer knappen Mehrheit, sondern erstaunlicherweise bei der überwältigenden Mehrheit der Wähler der Fall; Meinungsforscher sprechen von einer Zufriedenheit mit dem Ausgang der Nationalratswahlen bei über 60 % der Bevölkerung.

Diese große Zufriedenheit mit dem Ausgang der Wahlen signalisiert aber nicht nur Anerkennung für Schüssel, sondern mindestens genauso stark Genugtuung darüber, daß dem Kurs des „Knittelfelder“ Teils der FPÖ, die Regierungskoalition zu zerstören, vom Wähler eine kräftige, in diesem Ausmaß historisch einmalige Abfuhr erteilt worden ist. Das heißt aber, daß es einer Analyse bedarf, wie groß das Ausmaß der Zustimmung zur ÖVP einerseits und wie groß das Ausmaß des Wunsches nach Abstrafung Jörg Haiders und seiner „Knittelfelder“ in dieser gigantischen Wählerwanderung war. Eine umfangreiche Aufgabe für die Strategieabteilung der ÖVP (soferne es dort so etwas außerhalb der Person Wolfgang Schüssels überhaupt gibt).

Denn mit dieser bemerkenswerten Vorleistung der FPÖ, sich sozusagen willentlich von zwei Dritteln ihrer früheren Wähler zu trennen, war es für die ÖVP dann eine Sache, bei diesen Wahlen deren Stimmen zu bekommen. Diese Stimmen zu behalten, ist eine ganz andere Sache. Die Frage, ob das überhaupt gelingen kann, läßt sich heute noch nicht endgültig beantworten. Zu viele Bedingungen, von denen die Beantwortung dieser Frage abhängt, entscheiden sich erst in der Zukunft. Aber es läßt sich durchaus eine Art Matrix aufstellen, die erkennen läßt, welche Elemente politischer Entscheidungen Einfluß auf diese Frage haben werden.

Da ist zum Ersten das Verhalten der FPÖ. Die Entscheidung des Salzburger Parteitages, Einigkeit und Frieden in der Partei zu demonstrieren und alles beim Alten zu belassen, war wohl das verheerendste, was der FPÖ passieren konnte: Stärker als durch diese Vorgangsweise konnte den davongelaufenen Wählern nicht signalisiert werden, daß man nicht gewillt ist, aus dem Wahlergebnis Lehren zu ziehen. Das heißt aber nichts anderes als eine Botschaft an die abgewanderten früheren Wähler, daß man sie gar nicht zurückhaben will. Also eine weitere Leistung zugunsten der ÖVP, der es damit leichter gemacht wird, ihre neugewonnenen Anhänger zu behalten.

Bemerkenswert ist aber auch, wie sehr die FPÖ unter völligem Verzicht auf die letzten Reste von Selbstachtung und unter Aufgabe ihrer zentralen Anliegen geradezu auf Knien um eine Regierungsbeteiligung bettelt. Noch hat man die Knittelfelder Forderungen im Ohr: Sofortige Steuerreform, keine Abfangjäger, Veto wegen Temelin, Veto wegen der Benes-Dekrete usw. Und nunmehr ist das alles kein Thema mehr und die FPÖ liegt auf dem Bauch vor der ÖVP. Ob das dem harten Kern der „Knittelfelder“ gefällt? Vielleicht ist die FPÖ gerade dabei, dem nächsten Teil ihres Wählersegmentes mitzuteilen, daß es sich „vertschüssen“ soll. Wie heißt das Sprichwort? „Auch der Selbstmord ist ein Laster, wenn er zur Gewohnheit wird“. Frustrierte „Knittelfelder“ würden wohl kaum zur ÖVP wechseln, aber auch bei anderen Parteien kein befriedigendes Angebot finden. Also würden sie vermutlich das nächste mal zu Hause bleiben. Das erleichtert es wiederum den großen Parteien, zuvorderst der ÖVP, ihr relatives Ergebnis zu verbessern.

Zum Zweiten ist von großem Einfluß, welche Regierungskoalition gebildet wird. Daß von den neugewonnenen ÖVP-Wählern keiner Rot-Grün wollte, scheint klar. Vermutlich hätten sie auch mit Schwarz-Grün keine rechte Freude, und man darf vermuten, daß Wolfgang Schüssel das in seinen Verhandlungen mit Van der Bellen berücksichtigt. Die Vorbehalte der Neo-ÖVP-Wähler gegen die Grünen könnten in einer Koalition mit diesen nur durch enorme Erfolge der ÖVP in den Kernbereichen ihrer Regierungsprogrammatik (Verwaltungsreform, Budgetkonsolidierung, Ausgabendisziplin) überwunden werden, gerade solche Bereiche also, bei denen es Probleme mit den Grünen gibt. Nun leidet Schüssel ja bekanntlich nicht am Syndrom des politischen Selbstmordes, also kann man die Verhandlungsergebnisse in Ruhe abwarten.

Viel schwieriger ist es, die Auswirkungen einer möglichen Schwarz-Roten Koalition zu beurteilen. Zwar gilt nach der Papierform, daß die neuen ÖVP-Wähler wohl eine bürgerliche Politik mit neuen Gewichtungen wollten. Aber die fehlende Lernfähigkeit der FPÖ macht es ungewiß, ob Haiders willige Vollstrecker nach dem Willen ihrer abtrünnigen Wähler wirklich mit Regierungsämtern belohnt werden sollen, oder ob nicht vielleicht der Wunsch nach Strafe für die Wahnsinnigen überwiegt. Als sicher kann gelten, daß eine große Koalition keine geliebte Regierungsform für die neugewonnenen Wähler wäre, und wenn, dann nur auf befristete Zeit (eine Legislaturperiode) zur Erledigung jener Themen akzeptiert würde, die einer Verfassungsmehrheit bedürfen (Pensionsreform, Verfassungsreform, Bundesstaatsreform, Wahlrechtsreform).

Und zum Dritten hängt die Frage, ob die ÖVP ihre neuen Wähler behalten kann, sehr davon ab, was ihnen die Volkspartei an Ansprech- und Mitwirkungsmöglichkeiten bietet. Derartige Dinge brauchen eine gewisse Zeit, da sie mühselig im innerparteilichen Entscheidungsprozeß beschlossen werden müssen. Aber es ist klar, daß sich mehr an Angeboten darbieten muß als der bloße Apell, bei der ÖVP zu bleiben. Hält man sich die Struktur der ÖVP vor Augen, so drängt sich der Vergleich zwischen den rund 3% Bauern und deren beträchtlichem Einfluß auf die ÖVP-Politik einerseits auf und den rund 16% Neuwählern andererseits, die noch gar keinen Einfluß haben. Daß da etwas angeboten werden muß, scheint klar; und was immer es ist, wird es wohl auch die ÖVP selbst verändern (müssen), jedenfalls dann, wenn sich die Volkspartei nicht mit einem einmaligen Wahlergebnis dieser Art zufriedengeben will.

Das muß durchaus kein weiterer „Bund“ in der bündischen Struktur der ÖVP sein, aber ein organisiertes Vorfeld mit institutionalisierten Kontaktmöglichkeiten und einer gewissen Betreuung der Neuzugänge sollte es schon sein. Natürlich wird es da Eifersüchteleien der altgedienten Funktionäre geben, die ihren Anteil am Einfluß-Kuchen geschmälert sehen könnten. Um derartige Bedenken zu überwinden ist Führungsstärke nötig, und wer, wernn nicht Schüssel, könnte das erzwingen. Die Zeit drängt hier nicht, die Regierungsverhandlungen sind zur Zeit wichtiger. Aber im Frühjahr sollte man sich Gedanken machen, wie man die größer gewordene ÖVP stabilisiert.

Zu guter Letzt ist zum Vierten auch noch zu bedenken, daß die FPÖ sich vielleicht doch noch ändern könnte. So sehr eine FPÖ im jetzigen Zustand keine Gefahr für die Stärke der ÖVP ist, so wäre eine reformierte FPÖ mit nicht nur regierungswilligen, sondern auch regierungsfähigen Persönlichkeiten insbesondere dann eine gewisse Konkurrenz zur ÖVP, wenn sich diese zu einer großen Koalition mit der SPÖ entschließen sollte. Niemand kann heute sagen, ob die FPÖ derartige Reformkraft aufbringt. Nach derzeitigem Stand erscheint es viel wahrscheinlicher, daß sie zunächst bei den anstehenden Landtagswahlen abgestraft wird und sich in Richtung 5% bewegt. Aber wenn die Abstrafung heftig genug ist (z.B. sie aus den Landtagen fliegt) gibt es vielleicht eine Chance auf Reform. Groß ist sie nicht.

Freilich könnte es auch sein, daß eine noch zu erstellende eingehende Feldstudie über die neugewonnenen ÖVP-Wähler zum Befund kommt, daß ohnehin nur ein gewisser Teil endgültig an die Volkspartei gebunden werden kann. Und je nach Größe des anderen Teils könnte es sinnvoll sein, für diese Wähler eine neue Partei zu gründen. Ob dies weniger oder mehr Mühe macht, als eine Reform der FPÖ zu betreiben, hängt sehr von der Entwicklung der nächsten eineinhalb, zwei Jahre ab. Spätestens zur Mitte der Legislaturperiode muß aber klar sein, ob im Jahre 2006 für einen Teil der Neo-VP-Wähler eine kleine, regierungsfähige Partei benötigt wird, und ob das die FPÖ sein kann oder ob es etwas Neues braucht. Es ist also noch Zeit, aber nicht allzuviel Zeit.

Als Resumee läßt sich sagen: Sollte die ÖVP sich zu einer Koalition mit der FPÖ entschließen, und die FPÖ so bleiben, wie sie ist, dann braucht die ÖVP verhältnismäßig wenig zu tun, um die neugewonnenen Wähler zu behalten. Ob dieses Szenario für Österreich wünschenswert ist, ist eine andere Frage.

Wenn sich die ÖVP aber zu einer großen Koalition entschließen sollte oder/und sich die FPÖ doch noch zu einer echten Reform durchringt, dann muß Wolfgang Schüssel eine großangelegte Wähler-Behalte-Aktion wohl zur Chefsache machen.