Zwischen Friedenssehnsucht und strategischer Verantwortung oder „altes“ versus „neues“ Europa

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von Rainer Ernst Schütz

Nicht alle Regierungen, aber die überwältigende Mehrheit der Bürger Europas sind gegen einen Krieg im Irak. Das ergeben zumindest Meinungsumfragen mit großer Klarheit. Diejenigen, die gegen die amerikanische Strategie opponieren, allen voran die rot-grüne deutsche Regierung, leiten daraus eine Art moralische Verpflichtung ab, dieser Stimmung in der Bevölkerung zu entsprechen und ihr politisches Handeln danach auszurichten. Bestärkt wird die deutsche Regierung nicht zuletzt dadurch, daß es ihr mit dem Thema „kein Krieg im Irak“ gelungen ist, die schon sicher verloren geglaubte Bundestagswahl doch noch knapp zu gewinnen. Seither sieht Schröder offenbar im alten europäischen Pazifismus – schon immer ein Privileg der linken politischen Kräfte – eine Art Existenzgarantie für sein Regime.

Daß Politik in Europa bisweilen eben so aussieht, ist bekannt und daher weiter keiner Diskussion wert, nicht zuletzt deshalb, weil die deutschen Landtagswahlen gezeigt haben, daß die deutschen Bundesbürger durchaus zwischen ihrer Friedenssehnsucht einerseits und der politischen Bewertung der Regierung zu unterscheiden wissen.

Einer Diskussion wert ist aber jene Arroganz, mit der manche Europäer Gefühle einer moralischen Überlegenheit gegenüber der US-amerikanischen Haltung produzieren, indem sie mit Begriffen wie „Völkerrecht“ und „Nichteinmischung in innere Angelegenheiten“ hantieren, als wären dies Allheilmittel für alle Probleme der internationalen Politik.

Denn es läßt sich schon fragen, ob der Holocaust als innere Angelegenheit Nazideutschlands behandelt hätte werden sollen, wenn Hitler nur keinen Krieg begonnen hätte? Es läßt sich auch fragen, seit wann das Völkerrecht für z.B. Frankreich, einen der eifrigsten Gegner eines Kriegs im Irak, so wichtig ist? 1938 jedenfalls, beim völkerrechtswidrigen Einmarsch der Hitlertruppen in Österreich, gab es keinen französischen Protest; unter allen Staaten der Welt stellte sich einzig Mexiko auf die Seite Österreichs.

Wenig später, beim drohenden, völkerrechtswidrigen Einmarsch der Nazitruppen ins Sudetengebiet waren es bei der Münchner Konferenz nicht nur die Achsenmächte Deutschland und Italien, sondern auch die Demokratien Frankreich und Großbritannien, die unter Verletzung des Völkerrechtes und unter massiver Einmischung in die inneren Angelegenheiten der souveränen Tschechoslowakei diesen Staat gegen dessen Willen zerstückelten und dem Einmarsch Nazideutschlands zustimmten.

Der englische Premierminister Chamberlain, der schon zum Einmarsch in Österreich geschwiegen hatte, nannte die Münchner Konferenz einen großen Erfolg, der „Peace for our time“ bringe, Frieden für die jetzige Zeit. Damit entsprach er zweifellos dem Wunsch seiner Bevölkerung, die mit ähnlicher Klarheit, wie es jetzt die Deutschen sind, gegen einen Krieg eingestellt waren; ähnlich waren die Verhältnisse in Frankreich (und übrigens war auch die deutsche Bevölkerung klar gegen einen Krieg eingestellt).

Chamberlain blieb im Amt, auch nachdem Nazitruppen ein halbes Jahr nach dem Sudetenland auch noch die ganze Resttschechei besetzten. Chamberlain blieb auch im Amt, nachdem Hitler mit seinem Einmarsch in Polen den zweiten Weltkrieg ausgelöst hatte; erst nach dem deutschen Angriff auf Frankreich, bei dem auch die am Kontinent stationierten britischen Truppen in Gefahr gerieten, wurde der „Kriegstreiber“ Churchill britischer Premierminister.

Auch in den USA war die Friedenssehnsucht groß. Sie äußerte sich in massiven isolationistischen Tendenzen, die Europa sich selbst überlassen wollten. Hitler hatte den Weltkrieg schon begonnen, als im amerikanischen Repräsentantenhaus ein Antrag zur Abschaffung (!) der Wehrpflicht eingebracht wurde; und nicht etwa mit überwältigender Mehrheit, sondern nur mit einer einzigen Stimme Mehrheit abgelehnt wurde. Als Kriegstreiber galt damals wie heute der amerikanische Präsident, der damals aber nicht etwa aus dem Lager der Rechten kam, sondern der für US-Verhältnisse ziemlich weit links angesiedelte Demokrat Franklin Delano Roosevelt war.

Heute muß man jedem einzelnen der damals für die Beibehaltung der Wehrpflicht stimmenden Abgeordneten danken, daß durch ihre Entscheidung und die Beharrlichkeit Roosevelts Hitler besiegt werden konnte. Europa allein hätte es bekanntlich niemals geschafft – nicht nur der militärische Einsatz der US-Truppen, sondern vor allem auch die unermeßlichen Lieferungen von Kriegsmaterial an England und an die UdSSR waren entscheidend.

So ist heute, im geschichtlichen Rückblick, aus Chamberlain, der sich seinem friedens-süchtigen Volk verpflichtet glaubte, eine ziemlich verachtete Figur illusionärer Politik geworden, und die „Kriegstreiber“ Roosevelt und Churchill gelten zu Recht als die Retter des Abendlandes vor den Nazis.

Im heutigen Europa, 58 Jahre, nachem die Amerikaner für uns den Krieg gegen Hitler gewonnen haben, sind starke politische Kräfte emsig damit beschäftigt, noch immer Krieg gegen Hitler zu führen. Kein Tag ohne unzählige Reminiszenzen an die Untaten der Nazis, bis zur völligen seelischen Immunisierung der heranwachsenden Generationen gegen die immer wieder gezeigten Bilder. Bei soviel Beschäftigung mit dem Krieg von gestern hat man offenbar keine Zeit, heutige Bedrohungen zu erkennen und heute notwendige Strategien zu entwickeln. Da ist es einfacher, sich unter dem Motte „niemals wieder Krieg“ in ein Wolkenkuckucksheim zurückzuziehen, in dem die wesentlich weniger schöne Wirklichkeit verdrängt wird. Wie wird die nächste Generation über die Chamberlains von heute urteilen?