„Als Student kam man nach Wien, um bei Stoehr zu studieren“

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Die Hoffnung, so der Volksmund, soll man nie aufgeben. Das sagt sich seit vielen Jahren Richard Stoehr jun., der hoch betagte, mit schwerer Krankheit ringende Sohn des gleichnamigen, zu Lebzeiten geachteten, geehrten und gefeierten Komponisten und Tonsatz-Professors an der Wiener Musikakademie.

Lebensabriss

Tatsächlich wäre es an der Zeit, das Verdienst von Richard Stoehr, einem der namhaftesten Musikpädagogen und Komponisten im Wien des Fin de Siècle, endlich gebührend zu würdigen. Geboren wurde Richard Stoehr (geb. Stern), jüdisch-ungarischer Herkunft, am 11. Juni 1874 in Wien. Er ist am 11. Dezember 1967 in Montpellier, Vermont (USA), verstorben. Der weit über die Grenzen Europas hinaus berühmte Musikpädagoge und Komponist hatte auf Wunsch seines Vaters zunächst Medizin studiert (1898 Dr. med.) und studierte danach bei Robert Fuchs Musik.

Zwischen 1903 bis 1938 wirkte er als Professor für Musiktheorie an der Musikakademie Wien, bis er zwangspensioniert wurde. „In den meisten Jahren dieser Spanne konnte er jährlich zwischen einhundert bis dreihundert Aufführungen verzeichnen“. 1939 emigrierte er aufgrund der antisemitischen Rassenhetze in die USA. Er lehrte von 1939 bis 1942 das Fach Musiktheorie am Curtis Institute of Music in Philadelphia. Schüler von ihm waren dort unter anderen Leonard Bernstein – der Stoehr zeitlebens dankbar war und ihn im Vorwort seiner Biografie ein Denkmal setzte -, Erich Leinsdorf, Herbert von Karajan. Anschließend unterrichtete Stoehr bis 1943 in Cincinnati, OH und danach, 1943 bis 1950, in Winooski, Vermont. Dort lebte er bis an sein Lebensende, wobei er hin und wieder als Privatmusiklehrer unterrichtete. Insgesamt soll Richard Stoehr schier unglaubliche 10 000 Studenten unterrichtet haben.

Stoehr hatte ein absolutes Gehör. Er wollte kein Radio und kein Grammophon, weil er sonst an den unsauberen Einsätzen litt. Akademische Ehren gab es in seinem österreichischen Wirken zu Hauf: „Mein Vater war zeitweilig Präsident, dann Ehrenpräsident des Österreichischen Musik-Pädagogischen Verbandes, heute ist das der Österreichische Musik Rat. Dadurch hat er in den 1930-er Jahren ein Telefon bekommen“.

Eine Rarität: Die ungehobenen Tagebücher

Seit seinem 14. Lebensjahr, seit 1888, führte Richard Stoehr Tagebuch. Kontinuierlich, Tag für Tag, und wenn er krank wurde, „musste das seine Frau für ihn tun“, so Stoehr jun. in einem Interview im Februar 2002. Diese Tagebücher sind fast nicht lesbar, weil sie in einer sehr seltenen Steno-Schrift versigelt wurden [Gabelsberger Steno]. Doch auch hier gibt es Hoffnung, die Autorin konnte zwei Wiener Philologen ausfindig machen, die sich der Sache annehmen würden und könnten. Wenn, ja wenn das Erschließungs-Projekt auf sicheren Füßen stünde, doch davon kann noch lange nicht die Rede sein.

Der Sohn, der bedauert, den Familienbesitz so weit verstreut zu haben, möchte gerne die Wiederentdeckung der Werke seines Vaters anstrengen. Doch in Österreich vertröstet man ihn von Monat zu Monat. Diese Tagebücher, lückenlose Kulturzeugnisse ersten Ranges, wurden infolge der schwierigen Lesbarkeit bis zum heutigen Tage weder transkribiert, ediert, übertragen oder anders erforscht. Und den Platz, der auf den Namen des berühmten Vaters lauten solle (den man ihm zusicherte), gibt es bis heute nicht.

Vergriffene Biografie

Zum 90. Geburtstag hatte Hans Sittner, Präsident der Musikakademie Wien, eine Biografie Stoehr herausgegeben, die zahlreiche Schüler auflistet. Das Buch ist leider nur mehr antiquarisch zu erhalten. „Die Sekretärin besitzt heute noch zahlreiche Originaldokumente, die ich gerne zurück haben würde“, so Stoehr. Und: “Das beste an der 1964 vefassten Biografie ist das Vorwort von Anneliese Felsenstein, der Schwiegertochter von Walter Felsenstein“, so Stoehr jun. Sie war die letzte Schülerin des Kompositionsprofessors in Wien, die aber die Musikakademie nicht besuchen durfte, weil sie Jüdin war. „Sie hat bei meinem Vater privat Stunden genommen. Eine hochbegabte Frau, die auch einen Mozart-Roman geschrieben hat. Sie hat bei der RAVAG gearbeitet. Ihr zweiter Mann war der Sohn von Walter Felsenstein.“

Verstreuter Nachlass

Die meisten der Manuskripte und Autographen befinden sich im St. Michaels College im Archiv, „man hat eine Extra-Abteilung für meinen Vater gemacht. Er war ja der letzte spätromantische Komponist im Stil von Brahms und Bruckner“. Tatsächlich war er als Komponist ungerechtfertigterweise bereits Mitte des 20. Jahrhunderts nicht mehr so bekannt wie etwa Krenek, Goldmark oder Zemlinsky – die Konkurrenz war zu groß. Viele seiner großen Werke (er schrieb u. a. drei Opern, zwei Oratorien, vier Sinfonien, Kammermusik, Lieder) wurden in Wien stark kritisiert – „in Deutschland wurden sie übrigens sehr begrüßt“, wundert sich Stoehr.

Ein Teil liegt in Israel, ein anderer Teil im Tresor des Musikverlegers Hänsslers. „Dann habe ich noch einige Sachen gerettet, so die Korrespondenz mit Franz Lehàr, dem österreichischen Operettenkomponisten. Oder mit Bruno Walter,die mit Thomas Mann ist leider verschollen“.

Berühmte Vorfahren

„Mein Vater war ein geborener Stern. Im Zuge der antisemitischen Krawalle um 1898 in Wien wurde vom Kaiserlichen Statthalter in Wien die Änderung von Stern auf Stoehr bewilligt. Wir haben fast 40 Jahre im 4. Wiener Gemeinde-Bezirk in der Karolinengasse 14 gewohnt; ich bin1922 dort geboren worden“.

Stoehrs Vater, Samuel Stern, kam in den 1850-er Jahren von Ungarn über Prag nach Wien. Stoehr jun: „„In Prag hat er meine Großmutter kennen gelernt. Franz Liszt und Richard Wagner haben im Hause meiner Großeltern verkehrt“. Liszt war in Prag häufig zugegen, Wagner in Wien. „Meine Großmutter, Mathilde Porges, die Frau von Professor Stern, schreibt in ihren Memoiren, dass sie als kleines Mädchen auf dem Schoß gesessen ist von Franz Liszt. Prag war ja ein großes Musikzentrum“.

Die Familie ist dann nach Wien gekommen, Samuel Stern hat an der Karls-Universität in Prag studiert und in Wien promoviert. „Er steht im Großen Jüdischen Lexikon. Und meine Großmutter hängt als Gemälde im Oberen Belvedere in Wien, von Anton Romaka gemalt. Das ist die Mutter meines Vaters gewesen, die führte so einen richtigen Salon. Die mit Stellwagen noch gefahren ist. Die Bilder kommen aus dem Familienbesitz. Damals war kein Geld da, und man hat es verkauft“. Andere gewichtige Erinnerungen: „Mein Vater hatte ein Klavier, das er von seinem Vater ererbt hatte, auf dem Richard Wagner gespielt hatte“.

Ein Onkel, Heinrich Porges, war, obwohl er Jude war, ein großer Anhänger von Richard Wagner. Er hat diesen eingeladen nach Prag. 1863 fand Wagners erstes Konzert in Prag statt, und Porges hat damals eine Ausfallbürgschaft gemacht, weil er an Wagner glaubte. Das Konzert soll jedoch gut besucht gewesen sein.

Heinrich Porges war dann einer der Sargträger von Wagner. Und es gibt in Bayreuth ein Porges Zimmer im Wagner Museum. Stoehr jun.: „Porges hat sehr viel getan für Wagner“. Es gibt ein Foto der Uraufführung von Tristan und Isolde in München, auf dem Porges mit dabei ist. Und : „Wagner andererseits hat den König Ludwig II, den Märchenkönig, dazu bewegt, meinem Großonkel eine Pension zu gewähren, der daraufhin in München blieb“.

Richard Stoehr jun. war der erste, der im Sommer 1938 nach Schweden emigrierte. Der Vater emigrierte 1939 nach Amerika, im gleichen Jahr floh auch die Schwester mit einem der letzten Kindertransporte nach England. „Meine Mutter konnte leider nicht rechtzeitig raus. Am 12. März 1945, beim letzten großen Angriff, wo die Oper gebrannt hat, ist sie fast tödlich verschüttet worden. Sie war gerade bei Dr. Uhl, einem bekannten Professor in der Musikakademie in Wien, und hat sich ans Fenster gestellt, als die Bomben abgeworfen wurden. Man hat sie im letzten Moment gerettet und ins Allgemeine Krankenhaus gebracht. Ein Arzt hat ihr ein Auge wieder sehend gemacht, aber sie sah furchtbar aus. Daraufhin habe ich sie durchs Rote Kreuz nach Schweden bringen lassen, 1946“.

Amerika rief

„Mein Vater konnte 1939 nur einen Koffer – eine Art Kiste mit seiner Musik- und drei Dollar, das waren 10 Reichsmark, mitnehmen. Und seinen Namen. Nun der Unterschied: Sie wissen vielleicht, dass die meisten – außer Schönberg, der mehr Verbindungen hatte - Kálmán, Benatzky, viele, viele andere Teller waschen gehen mussten“. Stoehr wurde in New York abgeholt von seinen Freunden, Schülern und Bewunderern. Abgefahren war er 1939 von Bremerhafen nach New York, mit dem letzten Schiff. Die Freunde haben ihm dann geholfen, und haben ihn untergebracht. „Und er hatte in der Hand einen Vertrag, und das galt in Amerika als ganz viel“.

Zunächst erhielt er im Curtis Institute, Philadelphia, eine Professur. Aber nur von Jahr zu Jahr. „Dann ist dort der Krieg ausgebrochen mit Japan, da haben sie nicht genug Schüler gehabt, und das Geld ist ausgegangen“. Der begabteste Schüler dort war der unbekannte Leonard Bernstein, der 20 Jahre etwa alt war. „Später hat er seine Biografie im Gedenken an meinen Vater geschrieben“, so Stoehr jun.


Anderer Schüler am Curtis Institute of Music waren etwa die späteren Dirigenten Erich Leinsdorf, Arthur Rodzinski, Herbert von Karajan und die Pianisten Rudolf Serkin, Eugene Istomin, Alexander Brailowsky und Walter Hauzig.

Stoehr als Pädagoge

Seinen Weltruf hat Stoehr als Musikpädagoge erarbeitet. Bereits Anfang der 1930-er Jahre kamen Studenten aus Japan zu ihm, so Dagobert Arima. Diese japanischen Schüler haben eine Schiffsreise von drei Wochen von Japan über den Suezkanal und das Mittelmeer auf sich genommen, nur um bei Stoehr zu studieren. Auch chinesische und indische Studenten wollten nur bei ihm lernen. Das war damals ziemlich exotisch.

Bei seinen Vorlesungen an der Musikakademie hat er die Türen zusperren lassen für die Zuspätkommenden. Die Vorlesungen waren überfüllt. Und auch wenn die Studenten geklopft haben wie verrückt, er hat sie nicht herein gelassen. Das haben sich die Leute gemerkt, so hat er sie diszipliniert. Erinnerungen des Sohnes: „Er war sehr, sehr pünktlich, sehr gewissenhaft. Hat jeden Brief, wenn möglich, am gleichen Tag beantwortet – mit der Hand, er hatte ja keine Sekretärin. Er war teils gefürchtet und teils geliebt. Er war sehr streng, aber ein sehr guter Lehrer“.

„Mein Vater war sehr fleißig, er hat sehr viel geschrieben. ‚Jüdische Rastlosigkeit’, wenn Sie den Ausdruck kennen. Mein Vater hat immer gelesen, war sehr diszipliniert. Zu Gesellschaften war er Mittelpunkt, hat musiziert und vorgespielt. Die Leute haben ihn bewundert. Aber er ist immer vor zehn Uhr nach Hause. Er hat eine Zigarette geraucht pro Tag, und es gab höchstens ein Krügerl Bier“. 1964 erfolgte eine Einladung nach Wien zurückzukehren, aber da war er zu alt. Es war zu spät. Er wollte Wien in guter Erinnerung haben, nach dem Krieg war alles zerstört, und als 90-Jähriger wollte er nicht mehr über den großen Teich.

Neben den akademischen Vorlesungen hat Stoehr auch Vorträge gehalten in der Urania und bei anderen populären Veranstaltern. Er war sehr beliebt, so melden die Zeitungskritiken: „Die Begabten hat er gefördert, er war sehr gewissenhaft, hat sehr auf Pünktlichkeit und Ordnung gehalten, fast preußisch“.

Die Hoffnung lebt

Lange hat man Richard Stoehr hier, auch in seiner ehemaligen Wirkungsstätte, vergessen. Stoehr hatte keine Lobby, die Wiener Kritiker reagierten auf seine Musik bissig; die Kollegen waren sich Konkurrenten. Und bei den Juden war er auch unten durch, weil er sich hat taufen lassen – nach Bruno Walter, Arnold Schönberg und Gustav Mahler: „Das hat ihm sehr geschadet in der Wiener Gesellschaft, denn man kannte ja meinen Großvater“.

Aber: Die Benennung eines Platzes liegt noch in der Schwebe. Vor drei Jahren wurde diese Idee einmal angeregt von Seiten des Ministeriums. Noch hat sich nichts getan, aber einen kleinen Platz in Floridsdorf hat man zumindest einmal kurz ins Auge gefasst. Vielleicht geht es ja langsam vorwärts - es muss nur einer dran bleiben.